Mario Keßler erinnert an den langen weltweiten Kampf von Sozialist:innen gegen Antisemitismus. Eine Buchrezension.
Foto: Demonstration des Jüdischen Bunds am 01. Mai 1934 in Byalstok, Polen. Lizensiert unter Wikimedia Commons.
Jeden Tag müssen wir zusehen, wie der Kapitalismus der Antisemitismus aus allen Poren trieft. Der reichste Mann der Welt verkündet, dass sein unternehmerischer Erfolg von geheimen jüdischen Strippenzieher:innen blockiert wird. Bemerkenswert, dass staatliche Stellen in Deutschland kaum ein Wort zu den rechten Verschwörungstheorien des Elon Musk sagen – genauso wenig zu den deutschen Milliardär:innen, die ihren Reichtum von Nazi-Kriegsverbrecher:innen geerbt haben. Nein, für das deutsche Establishment ist die Quelle von Antisemitismus eindeutig: Judenhass kommt von Ausländer:innen, besonders von linken, und am gefährlichsten seien jüdische Linke. So wurde Karl Marx im Deutschen Historischen Museum in Berlin letztes Jahr lang und breit als Antisemit geschmäht.
Von bürgerlicher Seite wird behauptet, dass der Sozialismus immer schon antisemitisch gewesen sei; der Historiker Edmund Silberner etwa sprach von einem besonderen »sozialistischen Antisemitismus«. Nun hat der ostdeutsche Historiker Mario Keßler mit einem neuen Band diesen Vorwurf akribisch untersucht. Ergebnis: Sozialisten standen fast immer an der Spitze des Kampfes gegen Antisemitismus. Dies wird anhand vieler Länder belegt – Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland, Polen, Palästina … – sowie für viele Strömungen, von der Sozialdemokratie über den Kommunismus (mit all seinen Dissident:innen) bis hin zu den vielfältigen sozialistisch-zionistischen Organisationen. Keßlers Argumentation ist umso überzeugender, weil er auch noch so kleine antisemitische Ausfälle in den Reihen der Arbeiter:innenbewegung dokumentiert, um diese in den richtigen Kontext einzuordnen.
Fangen wir bei Marx an. An dieser Stelle ist kein Platz für eine Diskussion über seine umstrittene frühe Schrift »Zur Judenfrage«, wo er – so viel muss festgehalten werden – für die Emanzipation der Juden und nicht deren Auslöschung argumentierte. Marx, der Enkelsohn von zwei Rabbinern, hatte ein angespanntes Verhältnis zu seiner Herkunft. In privater Korrespondenz nutzte er gelegentlich antisemitische Schimpfwörter, aber in der Öffentlichkeit sagte er nichts zu jüdischen Bewegungen. Engels dagegen mobilisierte die Sozialist:innen immer wieder gegen den Antisemitismus und lernte sogar Jiddisch. Marx’ Tochter Eleanor besuchte Versammlungen der jüdischen Arbeiter:innen im Londoner East End und bezeichnete sich selbst und ihren Vater stolz als jüdisch.
In der Sozialdemokratie gab es einzelne antisemitische Trottel wie Eugen Dühring, aber keine Partei stritt so sehr für die Judenemanzipation wie die SPD. Etwa zehn Prozent der SPD-Fraktion im Reichstag waren jüdisch, dazu zwei Parteivorsitzende. In Frankreich war es ähnlich: Während Frühsozialist:innen wie Pierre-Joseph Proudhon antisemitische Ansichten vertraten, konnte Jean Jaurès die Arbeiter:innenklasse von ihrer Pflicht überzeugen, überall gegen Antisemitismus vorzugehen, selbst wenn es jüdische Bourgeois:es traf.
Das Highlight dieses Buches stellen die Debatten unter jüdischen Sozialist:innen selbst dar, wie sie sich organisieren sollen und mit welchem Ziel. Keßlers Rekonstruktionen von den vielen Gründungen und Spaltungen über ein knappes Jahrhundert erfordert eine gewisse Konzentration. Im historischen Rückblick neigt man dazu, nur zwei Tendenzen innerhalb der jüdischen Arbeiter:innen Osteuropas zu sehen: den bürgerlichen Zionismus eines Theodor Herzls und den proletarischen Antizionismus des Bundes. Keßler zeigt jedoch, dass es alle möglichen Zwischenstufen gab, wie etwa den Poale-Zionismus (»die Arbeiter Zions«), die den Aufbau eines jüdischen Nationalstaates befürworteten, aber nur damit ein jüdisches Proletariat entstehen und einen jüdischen Sozialismus aufbauen könnte. Dieses Projekt wurde schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts unter Marxist:innen debattiert. Kritiker:innen wie Chaim Jakow Gelfand wiesen darauf hin, dass die Kolonisation Palästinas zu Konflikten mit den arabischen Arbeiter:innen und damit zu neuem Antisemitismus führen würde. Es waren jene rechten Kräfte in der Zweiten Internationalen, die allgemein den Kolonialismus befürworteten, die dann auch den Zionismus unterstützten.
Die Poale Zion spaltete sich letztendlich: Der rechte Flügel gründete später den Staat Israel, während sich der linke Flügel dem Kommunismus anschloss. Nach der Russischen Revolution strömten jüdische Arbeiter:innen zu den Bolschewiki, weil nur die Rote Armee Schutz vor den furchtbaren Pogromen der Weißen bot. In der Sowjetunion wurde ab 1928 versucht, eine jüdische Republik in Birobidschan aufzubauen. Zu dem Zeitpunkt war die stalinistische Konterrevolution jedoch weit vorangeschritten und alte antisemitische Vorurteile kamen wieder hoch. Nach einem Jahrzehnt wurde die gesamte Führung Birobidschans liquidiert, genauso wie viele jüdische Kommunist:innen.
Dieses Buch ist sozusagen ein Lebenswerk: Es verbindet alte Texte und Forschungen, teilweise noch in der DDR geschrieben, mit viel neuem Material. Keßler zitiert endlos viele Quellen auf Deutsch, Russisch und Englisch und dazu einiges auf Polnisch oder Hebräisch. Am Ende kann er mit seiner These überzeugen, dass Sozialismus und Antisemitismus grundlegend unvereinbar waren. Jede sozialrevolutionäre Bewegung brachte die Judenemanzipation voran, genauso wie jede Konterrevolution versuchte Judenhass zu schüren – das gilt für den Thermidor genauso wie für den Stalinismus. Die Arbeiter:innenbewegung stellte ein Bollwerk gegen den Antisemitismus dar – sie musste vernichtet werden, um den Holocaust durchzuführen. Die Lehren aus dieser langen Geschichte gelten auch für heute: Erst mit dem Sturz des Kapitalismus wird dem Antisemitismus die gesellschaftliche Grundlage entzogen.
Mario Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844–1939). VSA, 368 S., br., 26,80 €.
Dieser Artikel erschien zuerst im Neuen Deutschland.
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