Es braucht nicht mehr als einen See. Um mittendrin zu schwimmen, die Augen auf Höhe der Wasseroberfläche. Um dann den Blick schweifen zu lassen: zum Mischbaum-Ufer, zum Reiher auf der tiefhängenden Weide, zum Fisch, der im Schnabel des Haubentauchers zappelt. Und auf die Spiegelung von Himmel und Bäumen, die sich bei jedem Armzug in die nächste schiebt. Eine 360-Grad-Perspektive auf die Welt, die nur genau dort möglich ist: in der Natur, wortwörtlich.
Als Metapher reicht der See für ein ganzes Genre: Sich in die Natur begeben, sie reflektieren und darüber, was diese Erfahrung mit einem macht. Um dann darüber zu schreiben. "Nature Writing" kommt als Name eines Genres harmlos pastoral daher, aber es hätte das Zeug als Ausdrucksform der Stunde: Es ist hochpolitisches Schreiben.
Schließlich leben wir in einer Gesellschaft, die seit Jahrhunderten Natur als Rohstoff ausbeutet. In einer Ära, in der Wetter immer eher Klima meint, also Katastrophen, Existenzangst, Fluchtbewegungen. Und in einem Land, in dem Landschaft einst rassenideologisch durchtränkt war und in dem nun erneut von oben definiert wird, was "Heimat" sein soll - und für wen. Überall: Natur als Quelle und Mündung. Es müsste die Hochzeit von "Nature Writing" sein.
Bücher ohne Kitschverdacht
Allein - die Gattung existiert hier quasi nicht. In Großbritannien, Nordamerika, Australien gibt es ganze Bestsellerautorenkarrieren im "New Nature Writing" und zig Literaturpreise. Hiesige Buchhandlungen wissen immer noch nicht recht, ob sie die Bücher bei "Reise", "Outdoor", "Autobiographie" oder ins "Selbsthilfe"-Regal packen sollen. Kein Wunder: Es sind Geschichten, die mit Prosaformen spielen, oft naturwissenschaftlich, politisch wie historisch verankert, Roman, Sachbuch und selbstreflektierendes Memoir zugleich. Und das ohne Kitschverdacht.
Es sind Bücher wie die von Helen MacDonald, die sich in ihrem internationalen Bestseller "H wie Habicht" von 2014 im Wesen dieses Greifvogels spiegelt und dabei über ihre Trauer sinniert. Die einen wandern, um heimische Landschaften wie sich selbst neu zu vermessen, andere schwimmen ganzjährig in wilden Wassern, streifen durch Moore und spüren Wachtelkönigen hinterher, um eine Sucht zu überwinden.
Anders als im Fixstern des Genres, Henry David Thoreaus "Walden" von 1854, ist Natur-Widmung heute weniger ästhetisch-dokumentarisch. Sondern vor allem geprägt vom Ich, das sich in der vertrauten, nicht der exotischen Landschaft, ihren kulturhistorischen Schichten und biologischen Aspekten spiegelt, findet, wandelt. Natur ist hier "Nicht-Ich-Welt, begriffen als Vorlage und Interpretationsraum", wie Schriftstellerin Ulrike Draesner es in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen formulierte.
Vorreiter Henry David Thoreau (1817-1862): Fixstern des Genres
Foto: Hulton Archive/ Getty ImagesEs reicht ein Blick aufs Wort, um zu merken, wie unterschätzt "Nature Writing" hier ist: Ein deutsches Pendant gibt es nicht. Seit zwei, drei Jahren kursiert der Begriff häufiger, bei ihm im Haus habe man sich schwer getan, sagt Andreas Rötzer, Leiter des Berliner Verlags Matthes & Seitz, dessen "Naturkunden"-Reihe seit gut fünf Jahren eins der ersten fixen Elemente für das Genre in der Branche ist. "Der Begriff 'Natur' ist in Deutschland stark romantisiert", sagt er, "Und 'Natur schreiben' klingt zu umständlich und technisch". Die Version "Naturschriften" bei Amazon klingt vor allem staubig.
Rötzers Verlag vergab in diesem Jahr zum zweiten Mal den "Deutschen Preis für Nature Writing" in Kooperation mit dem Bundesamt für Naturschutz - den einzigen hierzulande. Im vergangenen Jahr zeichnete die Jury Marion Poschmann aus, die in ihrem Buch "Mondbetrachtung" hofft, dass "die neuen Naturbilder in Zeiten von Globalisierung und Klimawandel [...] zu einer neuen Schule der Wahrnehmung werden"; nun gewannen mit Sabine Scho und Christian Lehnert gleich zwei Lyriker. In vielen eingereichten Texten käme Natur "auch mal vor", so Rötzer, "ein Gänseblümchen beschreiben" reiche aber eben nicht.
Sicher, es gibt deutsche Bücher über Natur und übers Draußensein wie Sand am Meer: angefangen bei den Wandergeschichten nach Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg", bis hin zu all den Titeln, die im Fahrwasser von Peter Wohllebens Wald-Bestsellern schaukeln, umspült von all den "Landlust"- und Outdoor-Wellen. Aktuell tauchen neben der Wald-Obsession, die Volker Weidermann analysierte, zwei weitere Schwerpunkte im Buchmarkt auf: Bienen-Bücher und Horden an Titeln über das Verhältnis Mensch-Tier.
Nur: All das ist kein "Nature Writing". Die neue deutsche Naturbuchwelle ist meist, typisch deutsch, von Experten geschrieben. Vom Förster, vom Imker, vom Biologen. Und die Draußenseinprosa ist gerne tief in Achtsamkeits-Sirup getränkt. Politische, kulturgeschichtliche oder ökologische Reflektionen über die Umgebung würden da nur stören. Selbst der "Mare"-Verlag, der sich allen Sieben Meeren verpflichtet fühlt, sieht sein Programm nicht als "Nature Writing", wie Verlagsleiterin Katja Scholtz versichert; auch wenn sie mit Henry Bestons "Das Haus am Rand der Welt" nun einen US-Klassiker des Genres auf Deutsch veröffentlicht.
So ist es meistens: Die "Nature Writing"-Texte, die erscheinen, sind Übersetzungen. Es ist, als müsste die deutsche Version dieses Genres erst ihren Ton finden. Die Gründe dafür verschwimmen. Schließlich gehört es, Romantik sei Dank, fest zur deutschen Kulturidentität, sich schwärmerisch in die Natur fallen zu lassen, sich transzendental darin aufzulösen.
Gegenimpuls zur aktuellen Naturentfremdung
Die englischsprachigen Autoren haben den Faden ihrer Romantiktradition aufgriffen und mit anderen Mustern weitergesponnen - in Deutschland war die Natur mit einem Schlag kein Grund zum Schwärmen mehr. Sie war Legitimation eines Volks. Und auf einer Blut-und-Boden-Landschaft kniend lässt sich nun einmal schlecht schreiben. Es scheint daher konsequent, dass seit den Siebzigern bis heute Natur weiter politisch gedüngt wird: von der Umweltbewegung bis zum Anthropozän, im Fokus dabei unsere Verantwortung für diese von Menschenhand gewandelte Umwelt.
"Wir hatten ganz dringlich das Bedürfnis nach Archivbildung", erklärt Verlagschef Andreas Rötzer die "Nature Writing"-Anfänge seines Programms, also zu bewahren, was zerstört wird. Für Katja Scholtz von "mare" zählt zudem unsere wachsende Naturentfremdung: jene Wetter-App-Normalität, in der wir stets wissen, wie stark und woher der Wind weht, "ohne das Haus dafür zu verlassen". Der Verlust wirke eben doppelt, so Rötzer: "Weil die Natur im Ganzen schwindet. Es gilt, den Bruch mit ihr zu heilen."
Und den mit der Landschaft, dem Land, der Heimat, muss man diesen Satz wohl ergänzen. Denn Heimat, ohne Ministerium, ist auch immer die Aneignung eines Raums. Die ideale Ressource: nicht als Kapitalquelle, sondern für Bewusstsein über Wachstum. Nicht um andere auszuschließen, sondern um zu feiern, dass Natur vor allem eines ist - entgrenzt. Erst recht, da Rassismus wieder in Sprache und Identitätsdebatten sickert.
Drum wäre "Nature Writing" ein wichtiges Format, gerade mit Perspektiven nicht weißer Autor*innen. Denn sich Heimat vertraut machen, heißt, sich ihre Landschaften zu erschließen. Also Naturausbeutung mal anders. Ist ja genug für alle da. Noch.
Author: Deborah Parrish
Last Updated: 1703457003
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